Kampf gegen IS: Syrien darf nicht vergessen werden!

Der Kampf gegen den Islamischen Staat (IS) darf sich nicht auf den Irak beschränken. Er muss auch Syrien in den Blick nehmen, um der Terrormiliz jegliche Rückzugsräume zu nehmen. Hierbei taugt das Assad jedoch nicht als Partner. Als politischer Geburtshelfer des IS und aufgrund seiner schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen verbietet sich jede Zusammenarbeit. Wichtig ist vielmehr eine ganzheitlich-regionale Strategie, in der der Schutz der Zivilbevölkerung vor IS und Assad ein zentrales Element sein muss.

Der Vormarsch des IS im Irak und die Verbrechen, die dabei an der Bevölkerung begangen werden, sorgen international für große Befürchtungen. Es ist in der internationalen Staatengemeinschaft inzwischen Konsens, dass der Vormarsch des IS gestoppt werden muss. Doch das wird nicht ausreichen, um die Terrororganisation dauerhaft zu zerschlagen. Hierfür müssen auch die Rückzugsorte der Gruppe ins Visier genommen werden. Sonst droht ein Wiedererstarken des IS, so wie dies die Taliban jahrelang in den Grenzregionen zu Pakistan vorgemacht haben. Momentan ist Syrien genau so eine Rückzugsmöglichkeit. Vor diesem Hintergrund hat die US-Regierung angekündigt, Luftschläge auch gegen Ziele innerhalb Syriens durchzuführen.

Internationale Schutzverantwortung für die Menschen im Irak

Es ist offensichtlich, dass die Regierung im Irak ihre Bevölkerung derzeit nicht vor den Gräueltaten des IS schützen kann. Man muss von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, eventuell sogar von Völkermord ausgehen. Gemäß des 2005 auf dem UN Weltgipfel verabschiedeten Konzepts der Schutzverantwortung (engl. responsibility to protect, R2P) hat jeder Staat die Verantwortung, seine Bevölkerung vor schwersten Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Sollte ein Staat nicht willens oder – wie im Falle des Iraks – nicht fähig sein, dieser Verantwortung nachzukommen, muss die Weltgemeinschaft für den notwendigen Schutz der Zivilbevölkerung sorgen und darf hierfür notfalls auch militärisch eingreifen.

Vor diesem Hintergrund hat die Regierung des Iraks um internationale Hilfe sowie Luftschläge der USA gegen IS Verbände gebeten. Fest steht aber: Es muss deutlich mehr getan werden, um den Vormarsch des IS so schnell wie möglich zu stoppen und die Bevölkerung vor weiteren Gräueltaten zu schützen.

Die Lehren aus Afghanistan

Die internationale Gemeinschaft sollte die richtigen Lehren aus dem Krieg in Afghanistan ziehen: Die nachhaltige Zerschlagung einer Terrorgruppe kann nur gelingen, wenn ihr die Rückzugsmöglichkeiten genommen werden. Das ist im Falle der Taliban versäumt worden, die sich in die pakistanisch-afghanischen Grenzgebiete zurückziehen konnten. Für den IS bietet Syrien momentan eine vergleichbare Rückzugsmöglichkeit. Wenn es die internationale Gemeinschaft mit ihrem Kampf gegen IS ernst meint, muss sie die Gruppe gleichermaßen in Syrien wie im Irak bekämpfen. Die Wurzeln der Gruppe liegen zwar im Irak, seine jetzige Stärke erreichte er aber durch Erpressungen und Eroberungen in Syrien.

Der syrische Präsident Assad selbst hat den IS gefördert, um die gemäßigten Rebellen zu schwächen und zu spalten. Die Kämpfer des IS setzten sich  hierdurch zunehmend gegenüber den gemäßigten, aber schlecht ausgestatten und unterfinanzierten Rebellen der Freien Syrischen Armee durch und konnten im Laufe der Zeit immer weitere Ressourcen hinzugewinnen. Zudem konnte der IS durch seine weitreichende Zielsetzung anderen islamistischen Gruppen Kämpfer abwerben und ausländische Kämpfer rekrutieren. Auch durch die finanzielle Unterstützung durch Golfmonarchien entstand auf diese Weise eine unvergleichlich brutale und effektive Gruppierung.

Nun dient sich Assad als Alliierter im Kampf gegen diejenigen Extremisten an, die er selbst miterschaffen hat. Er will zum Profiteur des durch ihn selbst verursachten Unglücks werden. Mit ihm zu kooperieren wäre deswegen ein großer Fehler. Die Verbrechen des Assad Regimes an der eigenen Bevölkerung haben derartige Ausmaße angenommen, dass eine Zusammenarbeit weder politisch noch moralisch möglich ist. In jedem Fall sollte das Assad Regime für die Förderung des IS nicht belohnt werden, indem es auf dem Weg einer Anti-IS-Allianz politisch rehabilitiert und ihm ein Vorgehen gegen seine Gegner ermöglicht wird. Denn klar ist: Sollte Assad weitere Massaker und Giftgaseinsätze gegen die Bevölkerung der vom IS beherrschten Gebieten verüben, so würde dem Westen hierfür eine Mitverantwortung gegeben werden. Es ist daher  ein Gebot der Klugheit, sich nicht in die Hände des skrupellosen Assad Regimes zu begeben.

Die Bevölkerungen im Irak und Syrien schützen

Die Extremisten konnten nur deswegen zur gefährlichsten islamistischen Bewegung der Welt werden, weil die internationale Gemeinschaft dem Bürgerkrieg und den Massenverbrechen in Syrien sowie dem allmählichen Zerfall der dortigen staatlichen Strukturen tatenlos zusah. Die jetzige Situation ist weniger dem Handeln, als dem jahrelangen Nichtstun der Staatengemeinschaft und des Westens geschuldet. Sollte sich nun ein Konsens zum Handeln gegen den IS finden, sollte der Schutz der zivilen Bevölkerung ein elementarer Bestandteil jeder Strategie sein. Es muss in jedem Fall verhindert werden, dass die IS Milizen einfach nur aus dem Irak verdrängt werden und statt dessen ihre Schreckensherrschaft in Syrien verstärken.

Der IS macht mit seiner brutalen Kampagne vor keinen Grenzen halt. Deswegen darf auch die internationale Gemeinschaft ihren Kampf gegen IS nicht an der irakisch-syrischen Grenze zum Stillstand kommen lassen. Es braucht eine ganzheitliche, regionale Strategie, in deren Zentrum endlich der Schutz der bedrohten Zivilbevölkerungen stehen muss. Im irakischen Sindschar-Gebirge konnte ein Völkermord an den Jesuiten nur knapp und durch ein beherztes Eingreifen verhindert werden. Es ist nun an der Zeit, endlich auch gegen die Verbrecher in Syrien vorzugehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese unter der Fahne des IS oder dem Kommando des Assad-Regimes kämpfen.

von Claudia Wiehler

Waffen für die Kurden: Der Preis des Nicht-Handelns

flagen

Die Bundesregierung hat erfolgreich der Versuchung widerstanden, in der Irak-Krise einer skeptischen Bevölkerungsmehrheit nach dem Munde zu reden. In einer überraschend sachlichen Bundestagsdebatte zu dieser Frage hat auch die Opposition weitestgehend darauf verzichtet, mit populistischem Pazifismus zu punkten. Das verdient Respekt. Denn laut aktuellem Politbarometer sind zwei von drei Deutschen gegen Waffenlieferungen an die Kurden. Der Kluft zwischen Regierung und Regierten zum Trotz hält Schwarz-Rot also Kurs, denn die Regierung weiß: Die Terror-Milizen des Islamischen Staats (IS) jetzt nicht zu stoppen, würde höchstwahrscheinlich zu Massakern an der Zivilbevölkerung, dem Zerfall des Iraks und der Schaffung eines Terrorstaats vor den Toren Europas in Kauf führen.

Zwar bergen Waffenlieferungen das Risiko, einer künftigen kurdischen Staatsgründung Vorschub zu leisten. Doch die Kritiker übersehen dabei: Nicht die Kurden, sondern IS ist die größte Gefahr für die staatliche Integrität des Iraks. Mit dem Beschluss von Waffenlieferungen zieht die Bundesregierung das kleinere dem größeren Übel vor. Diese bemerkenswerte moralische und politische Ermessensfrage hätte es eigentlich verdient, zum Ausgangspunkt einer öffentlichen Debatte zu werden. Denn was genau bedeutet internationale Verantwortung in der angewandten politischen Praxis, und nicht nur bei Sonntagsreden? Und wie gehen wir mit den Dilemmata um, vor die uns die Weltpolitik stellt? Bislang ist jedoch von einer fruchtbaren Debatte wenig zu sehen. Woran liegt das?

Schiefe Debatte

Ob man es nun Ausnahme oder Tabubruch nennt: Waffenlieferungen in ein Krisengebiet sind ein außenpolitischer Stilbruch. Während der Ukraine-Krise mit diplomatischen Mitteln begegnet werden kann, wird Deutschland mit dem Beschluss von Waffenlieferungen auf die Bühne der Realpolitik katapultiert. Das ist keine einfache Situation für ein Land, in dem die moralische Kommentierung von Konflikten gepflegt und das Heraushalten aus der Weltpolitik als politische Finesse betrachtet wurde. Vielleicht hat sich auch aus diesem Grund bisher keine wirklich ergiebige Debatte zur Krise im Nord-Irak entwickelt.

Da wird seitens der Kritiker über grundsätzliche Risiken von Waffenlieferungen debattiert, die Rolle der USA hinterfragt und die Theorie des gerechten Krieges bemüht. Der entscheidenden Frage aber weichen die Augsteins und Käßmanns der Nation bisher aus: Wie können wir eine Machtübernahme im Nord-Irak durch den IS verhindern? Kein Kritiker hat hierauf bisher eine befriedigende Antwort gegeben. Das mag aus polit-kommunikativer Sicht klug sein und einem moralisch schwierige Gewissensentscheidungen ersparen. Die Bundesregierung aber für ihre Antwort auf eine offensichtlich schwierige Frage zu kritisieren, während man selbst keine Antwort geben kann, ist scheinheilig. Machen wir uns also ehrlich. Betrachten wir die Konsequenzen eines Eingreifens oder Nicht-Handelns und entscheiden dann, was das kleinere Übel ist.

Die Folgen des Nicht-Handelns

Was also würde passieren, wenn die Kurden nicht mit Waffen ausgerüstet würden? Kaum jemand bezweifelt, dass IS den Nord-Irak ohne internationale Unterstützung für die Kurden überrennen wird. In diesem Fall stünde als Nächstes die Stadt Arbil vor dem Fall, in die sich zehntausende Jesiden, Christen und Kurden vor den Gräueltaten der Islamisten geflüchtet haben. Arbil ist in den vergangenen Monaten zum Symbol des kurdischen Widerstands geworden, weswegen IS ein Exempel vor den Augen der Welt statuieren könnte. Nach allen bisherigen Erfahrungen wäre mit einer Orgie von Vertreibungen und Massakern zu rechnen. Gefilmt und nur einen Tag später auf YouTube und Co.

Mit einem Sieg würde sich IS auf absehbare Zeit im Nord-Irak festsetzen, was den Zerfall des Landes dramatisch beschleunigen dürfte. Kein unabhängiges Kurdistan, sondern der Islamische Staat würde der territorialen Integrität des Iraks den Todesstoß versetzen. Die Auswirkungen sind überhaupt nicht abzuschätzen. In jedem Fall aber gäbe es nun ein Terrorausbildungszentrum von der Größe Großbritanniens vor den Toren Europas, von dem Osama bin Laden nicht in seinen kühnsten Fantasien zu träumen gewagt hätte. Bereits heute sollen mehr als 1 000 westliche Jihadisten für IS kämpfen. Alle mit deutschen, französischen und auch amerikanischen Pässen. Ein Alptraum für jeden Sicherheitsbeamten, Bahnfahrer und Weihnachtsmarktbesucher.

Gangbare Alternativen?

Trotz allem sollte niemand so tun, als ob Waffenlieferungen ohne Risiken wären. Selbst die größten Verfechter einer Bewaffnung der Kurden weisen hierauf klar und deutlich hin. Die Frage ist aber vielmehr: Gibt es realisierbare Alternativen? Eine Möglichkeit wäre ein militärisches Eingreifen einer internationalen Koalition der Vereinten Nationen. Vorteil: Keine Waffen für die Kurden. Nachteil: Für eine solche Intervention will niemand die notwendigen Truppen stellen. Der Rückzug des US-Militärs aus dem Irak war einer der größten Erfolge Obamas, der wenig Neigung verspüren dürfte, nun selbst amerikanische Truppen in den Nord-Irak zu senden. Ohne die USA aber werden weder Frankreich noch Großbritannien – geschweige denn Deutschland – eine Intervention mit Bodentruppen in Betracht ziehen. Bliebe einzig die Türkei, aber: Als regionaler Player mit eigenen machtpolitischen Interessen und einem schwierigen Verhältnis zu den Kurden ist Ankara ungeeignet. Ob man also will oder nicht: Die Option einer UN-Intervention scheidet leider aus.

Natürlich könnte sich Deutschland allein auf die Lieferung humanitärer Hilfe beschränken, wie dies von Einigen vorgeschlagen wird. Die Bewaffnung der Kurden würde dann unseren Partnern überlassen. In anderen Worten: Französische Waffenlieferungen finden wir gut, deutsche Waffenlieferungen finden wir schlecht. Das aber wäre eine moralische Absurdität, der es einzig um unser eigenes Seelenheil anstatt um die Menschen im Nord-Irak geht. Wer gegen Waffenlieferungen ist, muss konsequent gegen jegliche Waffenlieferungen sein. Das Problem ist: Einem Sieg des IS stünde dann nichts mehr im Weg. Und der Preis des Wegsehens wäre beträchtlich: Massenverbrechen an der Zivilbevölkerung, der Zerfall des Iraks und die Entstehung eines Terrorstaats an der Türschwelle Europas.

Wer bereit ist, diesen Preis zu zahlen, der sollte das ehrlich sagen. Darüber ließe sich streiten. Das würde unsere außenpolitische Debatte voranbringen. Denn moralisch angreifbar machen wir uns nicht nur mit, sondern auch ohne Waffenlieferungen.
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Dieser Beitrag wurde von der Zeitschrift Internationale Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Link: http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/heraushalten-ist-keine-politische-finesse-565/
Zerstörte Gebäude in Azaz in Syrien im August 2012 (Quelle: Voice of America News/Wikimedia)

Wie weiter in Syrien, Herr Erbel?

Entzug externer Unterstützung durch Kämpfer, Waffen und Geld für die in Syrien kämpfenden Parteien sowie mehr Unterstützung der Hauptaufnahmeländer für syrische Flüchtlinge – Bernd Erbel, Diplomat und von 2009 bis 2013 deutscher Botschafter im Iran und zuvor in Irak, im Interview mit Genocide Alert über verblieben Handlungsmöglichkeiten im Syrienkrieg Weiterlesen

Dr. Bruno Schoch, Wissenschaftler beim Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung

Wie weiter in Syrien, Herr Schoch?

Mit Iran verhandeln, Chlorgas- und Benzinbomben in Abrüstung der syrischen Chemiewaffen einbeziehen, humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge und deutlich mehr Aufnahmebereitschaft in Europa – Interview  von Genocide Alert mit Dr. Bruno Schoch, Wissenschaftler beim Leibniz Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung und langjähriger Mitherausgeber des Friedensgutachtens der deutschen Friedensforschungsinsitute. Weiterlesen

Petra Becker, Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Wie weiter in Syrien, Frau Becker?

Flugverbotszone in Betracht ziehen, grenzüberschreitende humanitäre Hilfe, Unterstützung für Polizei- und Sicherheitskräfte in den Rebellengebieten – Im Interview mit Genocide Alert geht Petra Becker, Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Naher / Mittlerer Osten und Afrika an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, auf Möglichkeiten ein wie die prekäre Lage in Syrien entschärft und den Menschen geholfen werden kann. Weiterlesen

Simon Adams, Executive Director des Global Centre for the Responsibility to Protect in New York

Wie weiter in Syrien, Mr. Adams?

Diplomatischen Druck über Sanktionen und ein Waffenembargo aufbauen, alle Seiten an einen Tisch zwingen, Überweisung des Falls an den Internationalen Strafgerichtshof und Ausbau der dringend benötigten grenzüberschreitenden humanitären Hilfe – Simon Adams, Executive Director des Global Centre for the Responsibility to Protect in New York schildert im Interview mit Genocide Alert notwendige Maßnahmen die in und für Syrien ergriffen werden sollten. Weiterlesen

Dr. Bente Scheller, der Direktorin des Middle East Office Beirut der Heinrich-Böll-Stiftung

Wie weiter in Syrien, Frau Scheller?

Den Einsatz von Fassbomben beenden und die syrische Luftwaffe am Boden halten, humanitäre Hilfe aufstocken und langfristige Unterstützung für die aufnehmenden Länder sicherstellen, politischen Aktivisten sowie Flüchtlingen ohne Papiere bei der Ausreise helfen – Im Interview von Genocide Alert schildert Dr. Bente Scheller, der Direktorin des Middle East Office der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, wie Zivilisten in Syrien geschützt werden können.

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Wie weiter in Syrien, Frau Böhm?

Förderung lokaler Waffenstillstandsabkommen und Dialogforen, Bereitstellung grenzüberschreitender humanitärer Hilfe, zur Not gegen den Willen der Regierungen in Damaskus und Moskau, Stabilisierungsmaßnahmen für die Nachbarländer und Aufnahme von Flüchtlingen durch westliche Länder – Andrea Böhm, die Büroleiterin Naher und Mittlerer Osten der Wochenzeitung DIE ZEIT, schildert im Interview gegenüber Genocide Alert Handlungsmöglichkeiten angesichts der humanitären Katastrophe in Syrien.

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Erinnern als Politikum – Die 20. Gedenkfeierlichkeiten des Genozids von 1994 in Ruanda

Jan Casper, Gewinner des Essaywettbewerbs von Genocide Alert und dem Land Rheinland-Pfalz, begleitete die rheinland-pfälzische Delegation um Innenminister Roger Lewentz zu den 20. Gedenkfeierlichkeiten des Genozids von 1994 in die ruandische Hauptstadt Kigali.

Als der Mann zu reden begann, fingen sie an zu schreien. Sie, das sind die Frauen im Amahoro-Stadion in Kigali, die die Rede des Mannes nicht ertragen konnten und deren Männer entweder tot oder schuldig sind. Denn er redete davon, wie 1994 Ruander Ruander systematisch ermordeten. Er legte Zeugnis darüber ab, wie einst hunderte Menschen Schutz in einer Moschee gesucht haben. Und wie annähernd alle dieser Menschen dort einen furchtbaren Tod starben. Dieser Mann überlebte als einer von wenigen.

Am Montag, den siebten April jährte sich der Ausbruch des ruandischen Genozids zum zwanzigsten Mal. Im Amahoro-Stadion, was von Kinyarwanda übersetzt „Friedens-Stadion“ bedeutet, wurde an diesem Montag eine Zeit der Trauer und des Erinnerns eingeläutet. Die afrikanische Politelite wohnte der Zeremonie ebenso bei wie die Weltgemeinschaft, repräsentiert von Ban Ki-moon. Dem Stadion wohnt, wie so viele Dinge in Ruandas boomender Hauptstadt Kigali, Symbolcharakter inne: Es wurde zur Trutzburg tausender Tutsi während des Genozids, eine Zeit lang zumindest.

Völkermord-Gedenkzeremonie im  im Amahoro-Stadion in der ruandischen Hauptstadt Kigali, April 2014

Völkermord-Gedenkzeremonie im im Amahoro-Stadion in der ruandischen Hauptstadt Kigali, April 2014

Was treibt die Frauen an diesen Ort, wo die Gräuel des Völkermordes erneut so lebendig werden, dass sie sich kreischend an den Gliedmaßen hinaustragen lassen müssen?

Seit der ehemalige Tutsi-Rebellenführer Paul Kagame das Land führt, ist Erinnern Staatsräson. Verschorfte Wunden werden in der jährlichen Gedenkwoche wieder aufgerissen; Ruanda ist, zwanzig Jahre nach dem Genozid, von „Kwibuka“ – dem Erinnern – gezeichnet. Bei Fahrten in das Landesinnere fallen um den Nachmittag herum Menschengruppen auf, die im Kreis um eine Sprecherin oder einen Sprecher sitzen. In diesen freiwilligen „conversations“ werden auch Zeugnisse abgelegt; von Opfern und Tätern. Sie finden in jedem Dorf statt, je nach Größe auch mit Mikrophon und Lautsprechern. Hier werden im Dialog Erlebnisse aufgearbeitet, die auch zwanzig Jahre später noch für Zusammenbrüche und große Trauer sorgen.

Eine Flamme der Erinnerung reiste mit einer Jugenddelegation durch das ganze Land, um schließlich das zentrale Feuer im Gedenkzentrum Gisozi in Kigali zu entzünden. Sie machte unter anderem in Camp Kigali in Nyarugenge halt, wo sich zu Zeiten des Genozids das Hauptquartier der Forces Armees Rwandaises befand. Hier wurde das Massaker an Tutsi, Twa und gemäßigten Hutu vorbereitet. Paulin Rugero, ein Überlebender aus dem Camp, berichte auch von Folter, die dort stattfand, von Folter, die weit „über die menschliche Vorstellungskraft“ hinausgehe. Die staatsnahe New Times erschien montags mit gewaltigem Dossier zum Genozid von 1994. Der staatseigene Fernseh-Sender zeigt historische Aufnahmen von belgischen Kolonialisten, die versuchen, durch Messen von Nasenlängen Unterschiede in der Physiognomie der konstruierten Ethnien zu finden. Es laufen Archivbilder vom Gemetzel und vor allem Präsident Kagame und seine Armee beim Wiederaufbau von Infrastruktur und – so legen es die Bilder nahe – nahezu des gesamten Landes.

Solch radikale Erinnerungskultur stößt nicht nur auf Sympathie. Eine junge Frau, die nach Ende des Genozids geboren und Besitzerin einer kleinen Boutique im Hôtel des Mille Collines ist, weltweit bekannt als eine der wenigen sicheren Häfen für Tutsi in 1994, stört die Omnipräsenz des Themas und die mediale Aufmerksamkeit: „Alle Journalisten wollen nur von mir wissen, wie ich mich fühle, wen ich im Genozid verloren habe, was diese Zeit des Erinnerns mir bedeutet – lasst mich doch einfach in Frieden!“

Und natürlich gibt es auch die andere, die dunkle Seite von Kwibuka. Wer Ruanda dieser Tage besucht, bekommt ein Bild davon, wie Paul Kagame, der big boss, die historischen Ereignisse zu Instrumentarien des Machtausbaus und Legitimation seiner Politik macht. An vielen prominenten Stellen sind Zitate Kagames zu lesen, in einem heißt es: „Der Körper Ruandas wurde gebrochen, doch sein Geist ist niemals gestorben.“ Der „Geist Ruandas“; ihn beschwört Kagame derzeit häufig. Ihm ist es wichtig, von einem vereinten Volk zu reden, einem Volk, das nur durch den Einfluss Außenstehender zerrissen werden konnte. Kagame stilisiert den Genozid zu einem Gründungsmythos eines neuen, erfolgreichen Ruandas, eines Phönix aus der Asche. Paul Kagame wird in der öffentlichen Wahrnehmung zur Personifikation dieses Mythos – sein Gesicht ist das Gesicht eines vereinten und friedlichen Landes. Und die Bürgerinnen und Bürger stehen hinter ihm. Er ist der starke Mann Ruandas. Die Erfolge Kagames sind nicht vom Tisch zu weisen: Er befreite das Land 1994 aus den Irren des Genozids, Wohlstand und Wachstum keimen, und unter ihm scheint endlich die Auflösung des Konstrukts Hutu/Tutsi zu gelingen. Doch Opposition, Pluralismus und Freidenkertum sind Institutionen, die nicht in Paul Kagames Konzept der Staatsführung passen und in der Entstehung dieses Mythos keinen Platz haben. Den Urfeind, den ein solcher Mythos braucht, liefert die Historie bedauernswerter Weise mit dazu: Die ehemaligen deutschen und belgischen Kolonialherren, die die starre Einteilung in Hutu und Tutsi schufen sowie eine globale Gemeinschaft, die 1994 aktiv weggeschaut hat. Kagame findet in beiden Verantwortliche für das Massaker, das vor zwanzig Jahren das Land verwüstete. Wie lange die Konzentration auf Paul Kagame dem Land noch guttun kann, bleibt fraglich. Die Herausforderung für die kommenden Generationen in Ruanda wird wohl nicht darin bestehen, einen weiteren Genozid zu verhindern. Sie besteht vielmehr darin, einen Staat wahrhaftiger Demokratie und aufgeklärter Bildung aufzubauen, dessen Stabilität und Einheit nicht mehr von Präsident Kagame und seiner „Erinnern – vereinigen – erneuern“-Rhetorik abhängt.

Doch so sehr die offizielle Erinnerungskultur in Ruanda einem außenstehenden politischen Beobachter auch Bauchschmerzen bereiten mag, ist sie doch immens wichtig für Opfer wie Täter zur Verarbeitung der Geschehnisse. Die Frauen, die nach zwanzig Jahren noch unter Schreikrämpfen zusammenbrechen, belegen das. Dialog ist das beste Mittel zur Verarbeitung von Gewalt, und Kommunikation das Beste zur Verhinderung derselben. Deswegen arbeitet die Organisation Aegis Trust, die sich den Kampf gegen Genozid weltweit zur Aufgabe gemacht und das eindrucksvolle Gedenkzentrum Gisozi in Kigali gestaltet hat, aktuell am Aufbau eines globalen Parlamentarier-Netzwerks. Ein solches soll als Brücke zwischen den nationalen und zuweilen regionalen Parlamenten und den internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen dienen und helfen, Verbrechen gegen die Menschheit zu verhindern. Stephen Twigg, britischer Labour-Abgeordneter, warb zusammen mit Aegis Trust-Mitarbeitern bei einem Treffen in Ruanda mit Abgeordneten des Bundestags sowie einer Delegation des rheinland-pfälzischen Landtags um Innenminister Roger Lewentz um deutsche Partizipation in diesem Netzwerk.

Twigg stimmte zu, dass ein solches Netzwerk Verantwortung um den ganzen Erdball verteilen und ein Versagen ähnlich dem der Weltgemeinschaft im Genozid von 1994 unwahrscheinlicher machen würde.

Jan Casper

 

Syrien: NGOs fordern Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof

flagen

Gemeinsam mit mehr als 100 Menschenrechtsorganisationen ruft Genocide Alert den UN Sicherheitsrat dazu auf, die Menschenrechtsvebrechen in Syrien durch den Internationalen Strafgerichtshof untersuchen zu lassen. Trotz mehr als 100.000 Opfern systematischer Gewalt gegen die Zivilbevölkerung herrscht in Syrien nach wie vor Straflosigkeit. Die internationale Gemeinschaft darf diese Situation nicht länger hinnehmen. Der UN Sicherheitsrat sollte den Internationalen Strafgerichtshof deswegen umgehend beauftragen, die Verbrechen in Syrien zu untersuchen und die Verantwortlichen anzuklagen.

 

Statement by Civil Society Organizations on Need for Justice

(New York, May 15, 2014) – Over one hundred civil society groups from around the world issued the following statement today to urge the United Nations Security Council to approve a resolution to refer the situation in Syria to the prosecutor of the International Criminal Court:

We, the undersigned civil society groups, urge United Nations Security Council members to approve a draft resolution supported by a broad coalition of countries that would refer the situation in Syria to the prosecutor of the International Criminal Court (ICC). More than three years into a conflict that has claimed well over 100, 000 lives, according to the United Nations, atrocity crimes are being committed with complete impunity by all sides in the conflict, with no end in sight.

Neither Syrian authorities nor the leaders of non-state armed groups have taken any meaningful steps to ensure accountability for past and ongoing grave human rights crimes. The failure to hold those responsible for these violations to account has only fueled further atrocities by all sides. Against this background, we believe the ICC is the forum most capable of effectively investigating and prosecuting the people who bear the greatest responsibility for serious crimes and of offering a measure of justice for victims in Syria.

The latest report from the UN’s Syria Commission of Inquiry, published on March 5, also found that all sides to the Syria conflict continued to commit serious crimes under international law and held that the Security Council was failing to take action to end the state of impunity. The commission, which has published seven in-depth reports since its establishment in August 2011, recommended that the Security Council give the ICC a mandate to investigate abuses in Syria. The need for accountability in Syria through the ICC has likewise been supported by more than
60 UN member countries, representing all regions of world, including 10 of the current members of the Security Council. We urge all Security Council members to heed this call for justice. Other countries should publicly support the draft resolution and warn Russia and China against using their veto power to obstruct accountability for violations by all sides. As a permanent international court with a mandate to prosecute war crimes and crimes against humanity when national authorities are unable or unwilling to do so, the ICC was created to address exactly the type of situation that exists in Syria today. Though the court’s work can be only one piece of the larger accountability effort needed in Syria, it is a crucial first step.

We therefore strongly urge Security Council members to urgently act to fill the accountability gap in Syria. The people of Syria cannot afford further disappointment or delay.

 

Co-signing organizations in alphabetical order:

1. Action des Chrétiens pour l’Abolition de la Torture, France
2. Amnesty International, Benin
3. Advocates for Public International Law, Uganda
4. Arabic Network for Human Rights Information, Egypt
5. Asia Pacific Centre for the Responsibility to Protect, Australia
6. Act for Peace, Australia
7. Arab Coalition for Sudan, Sudan
8. Arab Program for Human Rights Activists, Egypt
9. Arab-European Center Of Human Rights And International Law, Norway
10. Arab Foundation for Development and Citizenship, United Kingdom
11. Andalus Institute for Tolerance and anti-Violence Studies, Egypt
12. Benin Coalition for the International Criminal Court, Benin
13. Cairo Institute for Human Rights Studies, Egypt
14. Campaña Colombiana Contra Minas, Colombia
15. Center for Media Studies and Peacebuilding, Liberia
16. Child Soldiers International, United Kingdom
17. Christian Solidarity Worldwide, Belgium
18. Club des Amis du Droit du Congo, Democratic Republic of Congo
19. Coalition Ivoirienne pour la Cour Penale Internationale, Cote d’Ivoire
20. Colombian Commission of Jurists, Colombia
21. Community Empowerment for Progress Organization, South Sudan
22. Conflict Monitoring Center, Pakistan
23. Congress of National Minorities of Ukraine, Ukraine
24. Comité Catholique Contre la Faim et Pour le Développement – Terre Solidaire, France
25. Comision Mexicana de Defensa y Promocion de los Derechos Humanos, Mexico
26. CSO Network, Western Kenya
27. Dawlaty Foundation, Lebanon
28. Democracia Global, Argentina
29. East Africa Law Society, Tanzania
30. Egyptian Initiative for Personal Rights, Egypt
31. Elman Peace and Human Rights Center, Somalia
32. Euro-Mediterranean Human Rights Network
33. FN-forbundet / Danish United Nations Association, Denmark
34. Franciscans International
35. Fundación de Antropología Forense, Guatemala
36. Georgian Young Lawyers Association, Georgia
37. Genocide Alert, Germany
38. Global Solutions.org, United States
39. Global Justice Center, United States
40. Global Centre for the Responsibility to Protect, United States
41. Gulf Centre for Human Rights, Denmark
42. Horiyat for Development and Human Rights, Libya
43. Humanist Institute for Development Cooperation, The Netherlands
44. Humanitarian Law Center Kosovo, Kosovo
45. Human Rights First, United States
46. Human Rights Watch 47. International Justice Project, United States
48. International Commission of Jurists, Kenya
49. International Society for Civil Liberties & the Rule of Law, Nigeria
50. International Society for Traumatic Stress Studies, United States
51. International Federation of Action by Christians for the Abolition of Torture, France
52. International Center for Policy and Conflict, Kenya
53. Insan, Lebanon
54. Jacob Blaustein Institute for the Advancement of Human Rights, United States
55. Justice Without Frontiers, Lebanon
56. Kenya Human Rights Commission, Kenya
57. La Coalition Burundaise pour la Cour Penale Internationale, Burundi
58. Lira NGO Forum, Uganda
59. Ligue pour la Paix, les Droits de l’Homme et la Justice, Democratic Republic of Congo
60. Media Foundation for West Africa, Ghana
61. Minority Rights Group International, United Kingdom
62. National Youth Action, Inc., Liberia
63. No Peace Without Justice, Italy
64. Norwegian People’s Aid, Norway
65. Optimum Travail du Burkina, Burkina Faso
66. Open Society Justice Initiative
67. Pakistan Body Count, Pakistan
68. PAX, The Netherlands
69. Pax Christi International
70. Parliamentarians for Global Action
71. El Equipo Peruano de Antropología Forense, Peru
72. Physicians for Human Rights, United States
73. Pak Institute for Peace Studies, Pakistan
74. REDRESS, United Kingdom
75. Reporters without Borders, France
76. Rencontre africaine pour la défense des droits de l’homme (Raddho-Guinée), Guinea
77. Reseau Equitas, Cote D’Ivoire
78. Samir Kassir Foundation, Lebanon
79. Southern Africa Litigation Centre, South Africa
80. South African Institute for Advanced Constitutional, Public, Human Rights and
International Law, South Africa
81. Syrian Network for Human Rights, United Kingdom
82. Syria Justice & Accountability Center, The Netherlands
83. Syrian Nonviolence Movement, France
84. Syrian Observatory for Human Rights, United Kingdom
85. Synergie des ONGs Congolaises pour la lutte contre les Violences Sexuelles, Democratic
Republic of Congo
86. Synergie des ONGs Congolaises pour les Victimes, Democratic Republic of Congo
87. The International Federation for Human Rights, France
88. The Centre for Accountability and Rule of Law, Sierra Leone
89. The Association of Political Scientists, Greece
90. The Sentinel Project for Genocide Prevention, Canada 91. The Igarape Institute, Brazil
92. The Arab World Center for Democratic Development, Jordan
93. The United Nations Association of Sweden, Sweden
94. United to End Genocide, United States
95. Vision GRAM-International, Canada
96. Violations Documentation Center, Syria
97. Wake Up Genève for Syria, Switzerland
98. West Africa Civil Society Institute, Ghana
99. West African Bar Association, Nigeria
100. World Federalist Movement, Canada
101. World Federation of United Nations Associations
102. Zarga Organization for Rural Development, Sudan