Die internationale Gemeinschaft und die syrische Revolution

von Haid Haid

Haid Haid ist syrischer Sozialwissenschaftler und hat Damaskus im Januar 2012 verlassen. Er arbeitet als Programm-Manager beim Middle East Office der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut.

(aus dem Englischen von Christoph Schlimpert)

Die syrische Revolution dauert bereits mehr als 15 Monate an, die durchschnittliche Anzahl der pro Tag getöteten syrischer Zivilisten und Kombattanten (sowohl auf Seiten der Gegner als auch der Befürworter des Regimes) steigt stetig. Dennoch sind viele nach wie vor nicht in der Lage sich zu einigen, wie auf die Krise reagiert werden soll. Die internationale Gemeinschaft bleibt machtlos darin, dem Abschlachten ein Ende zu setzten. Die Komplexität der Lage in Syrien trägt dazu bei, dass die internationale Gemeinschaft sich bei der Erfüllung ihrer Verpflichtungen und der Hilfe zum Schutze der syrischen Bevölkerung zurückhält.
Um die Positionen der internationalen Gemeinschaft angemessen zu verstehen, ist  eine kurze Bestandsaufnahme der Maßnahmen erforderlich, welche diese gegen das syrische Regime ergriffen hat. Diese Maßnahmen und Sanktionen sollten aus der Perspektive des regionalen geopolitischen Machtgleichgewichts betrachtet werden, um klar zu versehen, warum  die internationale Gemeinschaft so zögerlich ist.

1. Regionale Interventionen in der Syrischen Revolution

Die kategorische Weigerung des Assad-Regimes Macht abzugeben, zusammen mit seiner Unfähigkeit, ohne äußere Hilfe sein eigenes Überleben zu sichern, führte zu seinem Drängen auf eine „freundliche“ Intervention der russisch-chinesisch-iranischen Achse. Im Gegenzug fand sich die US-europäische Achse,  mit der Türkei und einigen arabischen Staaten zusammen. Jedoch fehlt ist diese weitaus weniger koordiniert als die pro-Assad Achse.

Ungeachtet wiederholter Versuche der arabischen, regionalen und internationalen Gemeinschaften, Initiativen darzulegen, welche dem Regime helfen würden die Krise zu überwinden, wurde schnell klar, dass Assad nicht die Absicht hatte, eine Lösung zuzulassen, welche von außerhalb Syriens käme. Syrien wurde zu einem Schlachtfeld, einem Ort, an welchem internationale und regionale Rechnungen beglichen werden. Dies steigerte wiederum die Komplexität der politischen Situation des Landes: nicht mehr nur eine Auseinandersetzung zwischen einem repressiven Regime und einer revolutionären Bevölkerung, nahm der Konflikt eine darüber hinausgehende regionale und internationale Dimension an.
Der Mehrheit der Syrer wurde unterdessen klar, dass eine Entscheidung im Kampf um Syrien (ein Kampf, der bis dato auf das Gebiet innerhalb der syrischen Grenzen beschränkt war) einen internationalen und regionalen Konsens erforderte. Die Unterstützung der Revolution war nicht mehr nur einfach eine Angelegenheit, in der es darum ging, ein Volk im Kampf um ihre Grundrechte zu unterstützen, sondern auch ein Vorwand, um in eine umfassendere Auseinandersetzung um Einfluss in der Region eingreifen zu können.
Manche westlichen und arabischen Staaten sehen die Vorgänge in Syrien als Gelegenheit, Syriens Verbündete, Russland und Iran, zu marginalisieren. Mit anderen Worten handelt es sich um einen Stellvertreterkrieg gegen den Iran, Saudi Arabiens regionalen Gegner. Russland und China zeigten sich unterdessen höhst erfolgreich darin, die Bemühungen der USA und ihrer europäischen und arabischen Partner um eine UN-Sicherheitsratsresolution zu vereiteln, welche diesen einen weiteren Stand im Nahen Osten verschaffen und die westliche Militärpräsenz im mediterranen Raum verstärken würde. Irans uneingeschränkte Unterstützung für das syrische Regime, beispielhaft erläutert durch die Aussage des iranischen Staatsoberhauptes, Ayatollah Khamenei, dass sein Land seinen regionalen Verbündeten um jeden Preisverteidigen würde, kann am besten verstanden werden, wenn man die Konsequenzen eines Sturzes von Assad prüft: Es würde bedeuten, dass Iran einen seiner wichtigsten strategischer Verbündeten in der Region verlieren würde.

Viele Syrer glauben, dass, während das Überleben der Revolution in den Händen der Syrer selbst liegt, der Sturz Assads vom regionalen und internationalen Konsens abhängt. Es ist die Aufgabe der Syrer, die Flamme der Revolution durch friedliche Demonstrationen am Leben zu halten, bis eine Übereinkunft erreicht werden kann.

2. Arabische und internationale Sanktionen

Aufgrund dessen, dass das syrischen Regimes an der exzessiven Gewaltanwendung gegenüber seiner Bevölkerung festhält und im Lichte des Unwillens der internationalen Gemeinschaft, eine militärische zu intervenieren, verhängten die USA, die EU und die Arabische Liga weitreichende Sanktionen. Diese beinhalteten Reisebeschränkungen für die Assad-Familie und syrische Offizielle, das Einfrieren ihrer Bankkonten und –vermögen, ein Embargo gegenüber dem Kauf syrischen Öls und die Schwächung der syrischen Cyber-Fähigkeiten. Die EU hat vor kurzem eine Liste von 14 Produkten aufgestellt, welche nicht an Syrien verkauft werden dürften. Diese schließt Luxusgüter ein und Informationstechnologie, welche für die interne Repression geeignet ist. Ebenso wurde das Land teilweise diplomatisch isoliert..

Es soll erwähnt sein, dass diese Sanktionen nicht die volle Unterstützung der syrischen Opposition fanden. Diejenigen, welche an der Notwendigkeit von Sanktionen und ihrer Effektivität zweifeln, behaupten, diese schadeten der Revolution selbst. Das Regime kann sich um sich selbst kümmern. Es hat eine langjährige Erfahrung mit Schmugglernetzwerken, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sowohl der Libanon als auch der Irak gegen die arabischen Sanktionen gestimmt hatten, während Jordanien sich enthielt. Auf internationaler Ebene fahren Russland, China und der Iran damit fort, dem Regime materielle, technologische und militärische Unterstützung zukommen zu lassen. (1)

Für Befürworter von Sanktionen bleibt währenddessen zu hoffen, dass die Maßnahmen doch in der Lage sein werden, das Regime in den Schwitzkasten zu nehmen, was dazu führen würde, dass es seine anti-revolutionären Operationen nicht mehr finanzieren könnte, während syrische Geschäftsleute dazu gedrängt würden, ihre Unterstützung für das Regime aufzugeben.

Obwohl es aufgrund der Informationssperre des Regimes nahezu keine Wirtschaftdaten gibt, gibt es einige Hinweise, die uns einen Eindruck davon geben, wie schwierig die Lage und wie tief die Krise in Syrien ist. Am offensichtlichsten und wohl am bedeutendsten sind die Zahlen des Internationalen Währungsfonds. Sie zeigen, dass das Syrische Pfund seit Ausbruch der Revolution auf 45% des Wertes bei Ausbruch der Revolution gefallen ist. (2) Große Summen wurden von privaten Bankkonten abgezogen und die Kosten der Güter des täglichen Bedarfs haben nie dagewesene Höhen erreicht. Es ist klar, dass sich Syrien mittlerweile gravierenden ökonomischen Problemen ausgesetzt sieht.

Dennoch sollten wir im Kopf behalten, dass viele Syrer wirtschaftliche Sanktionen an sich als unwirksam darin betrachten, das Regime zu Zugeständnissen zu zwingen oder gar seinen Sturz herbeizuführen. Um eine Lösung der Krise zu erreichen, müssen diese Sanktionen mit ernsthaftem internationalem Druck einhergehen.

3. Die Responsibility to Protect

Die gegenwärtige Krise in Syrien ist ein perfektes Fallbeispiel dafür, wie das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect; R2P) für die Rechtfertigung internationaler Intervention gebraucht werden könnte.(3)
Das syrische Regime, welches fortlaufend Gewaltakte gegen seine schutzlose und isolierte Zivilbevölkerung ausführt, hat seine Pflicht zum Schutze seiner Bürger grundliegend ignoriert.  Zwischen dem Ausbruch der Revolution im März 2011 und dem 12. Mai 2012 haben syrische Sicherheitskräfte mindestens 12.782 Personen getötet und weitere 24.319 festgenommen (Zahlen des Centre for the Documentation of Human Rights Violations in Syria (4). Regierungstruppen beschossen dicht bevölkerte Wohngebiete mit Artilleriefeuer, setzten Scharfschützen und Kampfhubschrauber gegenüber Zivilisten ein und folterten verwundete Demonstranten in Krankenhäusern.

Diese Übergriffe sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit, definiert durch das Rom-Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Das syrische Regime hat darin versagt, seine Pflicht zum Schutze seiner Zivilbevölkerung wahrzunehmen, weshalb diese Verantwortung nun an die internationale Gemeinschaft übergeht.(5)

Die internationale Gemeinschaft zögert jedoch aus folgenden Gründen nach wie vor, ihre Verantwortung zu akzeptieren:

  1. Sorge über die post-revolutionäre Regierungsform. Dies schließt die Angst vor potentieller innerer und regionaler Instabilität mit ein, sowie dass die neue Regierung von Islamisten dominiert sein könnte, wie es in anderen post-revolutionären arabischen Staaten geschehen ist. Dies wird durch die internen Auseinandersetzungen innerhalb der syrischen Opposition verschärft, welche sie davon abhalten, einen „Fahrplan“ auszuarbeiten, welcher die internationale Gemeinschaft und jene Syrer beruhigen würde, die aus Furcht vor einer unsicheren Zukunft der Revolution nicht ihre Unterstützung ausgesprochen haben.
  2. Erfahrungen mit militärischen Interventionen in anderen Ländern in der Vergangenheit: Die anhaltende Instabilität in Libyen und die Unfähigkeit des libyschen Staates, seine Autorität durchzusetzen und die Bevölkerung zu entwaffnen. Das libysche Modell dient als wirkungsvolle Abschreckung gegenüber jeder Form einer direkten militärischen Intervention, besonders für viele in Europa.
  3. Zweifel an der Effektivität einer indirekten militärischen Intervention (6), angesichts des Umstands, dass die Opposition über keine zentralisierte militärische Streitkraft verfügt. Es gibt ebenfalls Sorgen über die Konsequenzen einer Bewaffnung extremistischer islamistischer Gruppen, die jüngst in Syrien aufgetaucht sind.
  4. Eine Präferenz für eine Transition gegenüber einem Umsturz durch einen Entscheidungsschlag: Ein gradueller Prozess würde anderen Staaten Zeit geben, um ihre Interessen in der Region anzupassen und zu beschützen.
  5. Israelische Interessen und Israels Einfluss auf die amerikanischen Interessen. Aus israelischer Perspektive ist die Priorität nicht, Menschen zu schützen, sondern vielmehr, die Auswirkungen eines Regimewechsels auf die israelische Sicherheit zu minimieren.
  6. Innenpolitische Bedenken: Der amerikanische Unwille, bei den Forderungen nach einem Ende der Gewalt die Führung zu übernehmen, liegt in großen Teilen in den anstehenden Präsidentschaftswahlen begründet. Obama strebt nach einer zweiten Amtszeit und kann keine Komplikationen durch eine Ausdehnung amerikanischen Engagements auf Syrien gebrauchen.
  7. Wirtschaftliche Gründe: Die Wirtschaftskrise in der EU und den USA und ihr Einfluss auf die Bereitschaft der internationalen Gemeinschaft, die Rechnung für eine militärische Intervention in Syrien zu zahlen.
  8. Alleiniger Fokus auf eine militärische Intervention: Der Fokus der syrischen Opposition und der internationalen Gemeinschaft auf eine militärische Intervention, welche in der gegenwärtigen Situation nicht wünschenswert ist, hält sie davon ab, andere Formen der Einflussnahme auszuloten.

Auch wenn dies alles richtig ist, entschuldigt es nicht den Widerwillen der internationalen Gemeinschaft, ihre Verantwortung gegenüber dem syrischen Volk wahrzunehmen. Die internationale Gemeinschaft ist mehr als fähig, ihre Vorbehalte zu überwinden, wenn sie eine echte Gefährdung ihrer eigenen Sicherheit oder Interessen empfindet. In Libyen beispielsweise traf die internationale Gemeinschaft die Entscheidung, militärisch zu intervenieren, vergleichsweise schnell, ungeachtet der Einwände von Russland und China. Jedoch scheint sie unfähig zu sein, eine UN-Sicherheitsratsresolution zu verabschieden. Dies liegt daran, dass diese eine direkte Bedrohung der Interessen bestimmter Staaten darstellt, während sie für andere eine Gelegenheit bieten würde.

4. Die syrische Revolution

Die internationale Gemeinschaft neigt dazu, ihr Versagen zu rechtfertigen, indem sie auf darauf verweist, dass die Opposition nicht geeint ist, es an einer machbaren politischen Alternative zum Assad-Regime fehlt und sich auf das russische und chinesische Veto im UN-Sicherheitsrat beruft. Die Debatte über die Syrienkrise wird stets durch solche Details überlagert, obwohl sie eigentlich auf das ausgerichtet sein sollte, was die syrische Bevölkerung erlebt, welche tagtäglich dem Tod ins Auge blickt, weil sie grundlegende Freiheitsrechte, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung einfordert.

Obwohl das das Wesentliche in dieser Angelegenheit sein sollte, ignorieren internationale Akteure dies meist. Sie konzentrieren sich lieber auf ihre Ängste, was zumeist den Vergleich von Syrien mit anderen arabischen Staaten wie Libyen und Irak einschließt. Sie äußern sich besorgt über die Wahrscheinlichkeit eines Bürgerkriegs und üben sich in Kassandrarufen und Analysen, welche zumeist auf ignorieren, was sich bereits jetzt in Syrien ereignet. Diese Ängste werden weiter gesteigert durch die zunehmende Tendenz westlicher und arabischer Medien, die Revolution als sektiererisch und salafistisch zu porträtieren.

Dennoch resultieren diese politischen Komplexitäten und besorgniserregenden Vorhersagen über die Zukunft des Landes größtenteils aus zunehmenden repressiven Aktionen und exzessiven Gewaltanwendung des Regimes sowie zum anderen aus dem Unwillens der internationalen Gemeinschaft, die Revolution und ihre legitimen Forderungen zu unterstützen. Selbstverständlich hat auch die traditionelle syrische Opposition ebenfalls einige Verantwortung zu tragen, denn zeigt sich sich der Lage nicht gewachsen . Es wäre an ihrer Stelle notwendig, sich zu vereinen, um den internationalen Bemühungen dem syrischen Volk zu helfen einen klaren Anknüpfpunkt zu bieten. Sie ist darin gescheitert, einen überzeugenden Diskurs oder eine klare Marschoroute für eine post-Assad Machtverteilung herzustellen.

Die anhaltende Gewalt des Regimes gegen die eigene Bevölkerung und die Schwäche und Reformunfähigkeit der traditionellen Opposition führten dazu, dass sich viele Syrer isoliert und von der arabischen und internationalen Gemeinschaft ihrem Schicksal überlassen fühlen.(7)
Dies führt zwangsläufig dazu, dass manche Syrier sich dafür entscheiden, Waffen gegen das Regime zu richten. Dennoch glauben die Syrer nach wie vor, dass Waffen alleine nicht Assads Sturz bringen werden und führen ihre gewaltfreien Demonstrationen fort.

Die Islamisierung der Revolution kann man indes am besten als eine Phase begreifen. Die große Mehrheit der Syrer sind sunnitische Muslime, deren Religiosität konventionell, traditionell und apolitisch ist. Mit anderen Worten: moderat, aufgeschlossen und tolerant gegenüber ethnischer, religiöser und konfessioneller Diversität. Konfessionelle Vielfältigkeit war bereits seit Jahrhunderten ein Teil Syriens und blieb auch von politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Wandel unberührt. Im Gegensatz zu seinen eigenen Bekundungen, ist Assad nicht der Schutzherr der Minderheiten; viel eher ist dies das syrische Volk selbst.

Die dschihadistisch-salafistische Bewegung, welche im Zuge der US-Besatzung des Iraks ans Licht getreten ist, ist größtenteils selbst ein Produkt des Assad Regimes. Die Sicherheitskräfte haben diese Gruppierungen durchdrungen und benutzen sie, um Druck auf die US-Besatzung, oder, nach dem syrischen Rückzug aus dem Libanon, im palästinischen Flüchtlingslager Nahr al-Bared auszuüben. Es ist bezeichnend, dass vor Ayman al-Zawaheris Unterstützungserklärung für die syrische Revolution keine dschihadistische Organisation, einschließlich Al-Qaida, verkündet hatte, dass sie Operationen gegen das syrische Regime durchführen würde, noch dieses verurteilt hätte.

Ungeachtet des Wachstums von Gruppierungen wie al-Ansar und al-Nour (8), besteht die echte Gefahr nicht darin, dass der Salafismus sich in einem post-revolutionären Syrien durchsetzt (es ist wahrscheinlicher, dass die dschihadistische Bewegung nach dem Fall des Regimes, das sie aufgezogen und versorgt hat in der Unbedeutendheit verschwindet). Viel gefährlicher in dieser Hinsicht ist, dass die Revolution scheitern könnte, bzw. dass sich die gegenwärtige Situation ohne Aussicht auf ein Ende der Gewalt fortsetzt. Der Grund hierfür ist, dass diese extremistischen Gruppen mit der Zeit an Stärke gewinnen. Zeit erlaubt ihnen, sich auszubreiten und die Gesellschaft zu durchdringen. Um die friedliche Natur der Revolution zu bewahren und die Zukunft des Landes und der Region zu sichern, muss die Krise so schnell wie möglich gelöst werden.

Die Unentschlossenheit der westlichen Mächte aufgrund ihrer Angst, dass salafistische und islamistische Dschihadisten in Syrien an Boden gewinnen, hat sie davon abgehalten, die Revolution tiefergehend zu unterstützen. Jedoch ist es ironischerweise genau diese Unentschlossenheit, die die idealen Bedingungen für einen dschihadistisch geprägten Aufstand hervorbringt. Dschihadisten füllen die Lücke, welche durch den Mangel an internationaler Aktion gegenüber der anhaltenden brutalen Gewalt des Regimes entstanden ist.

5. Fazit

Jede Betrachtung der syrischen Revolution muss sich zuallererst darauf richten, was in Syrien tatsächlich passiert: ein Volk verlangt die grundlegenden Rechte auf Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung gegenüber einem Regime, welches entschlossen ist, sich an die Macht zu klammern, koste es was es wolle; ein Volk welches vor einem Regime geschützt werden muss, das jegliche Verantwortung fallen gelassen hat und entschlossen ist, seine Bevölkerung mit allen ihm zur Verfügung stehenden barbarischen Mitteln zu unterdrücken.

Pflicht und Moral gebieten, dass die arabische und die internationale Gemeinschaft unverzüglich und effektiv unter dem Prinzip der Schutzverantwortung eingreifen, um die Gewalt zu stoppen. Ebenso haben sie ein reales Interesse an einer schnellen Lösung der Krise. Die exzessive Gewaltanwendung während gleichzeitig eine umsetzbare politischen Lösung fehlt, und das Gefühl der Menschen, dass sie beim Kampf gegen eine staatsgestützte Mordmaschine auf sich allein gestellt sind, kreiert die perfekte Umgebung für die Ausbreitung einer gewalttätigen Gegenbewegung, deren Auswirkungen auch außerhalb der Grenzen Syriens zu spüren sein werden. Die Situation im Libanon ist hierfür eine ernüchternde Mahnung.

Es ist folglich angemessen darauf hinzuweisen, dass das Versagen der internationalen und regionalen Mächte dem syrischen Volk bedeutsame Unterstützung zukommen zu lassen, vom Widerwillen herrührt, irgendeine Form militärischer Intervention, direkt oder indirekt, auf die Beine zu stellen. Die internationale Gemeinschaft versteht nicht, dass eine militärische Intervention nicht die einzige Lösung ist und versäumt deshalb andere Wege, wie eine z.B., den s Fall an den Internationalen Strafgerichtshof zu überweisen, zu erkunden.

Unten angeführt sind einige alternative Optionen die den internationalen Akteuren zur Verfügung stehen:

  1. Druck auf das Regime und seine Alliierten ausüben, damit dieses den Kofi-Annan-Plan vollständig implementiert.
  2. Das syrische Regime hat sich bislang aufgrund seiner regionalen Alliierten in halten können. Die internationale Gemeinschaft kann dabei helfen, die Krise zu lösen, in dem es regionale Bündnisse mit dem Regime kappt und Druck auf Russland, China und Iran ausübt, die Lieferung von militärischer, materieller und technologischer Hilfe einzustellen, welche es Assad ermöglicht, seinen Krieg gegen die Bevölkerung durchzuführen.
  3. Druck auf Nachbarstaaten (Irak, Libanon und Jordanien) ausüben, damit diese sich den Sanktionen anschließen, um so deren Effektivität zu steigern und die Lebensdauer des Regimes zu verkürzen.
  4. Internationale und arabische Akteure dazu zu ermutigen, zusammenzuarbeiten, um die vollständige politische Isolation des Regimes sicherzustellen.
  5. Daran zu arbeiten, die Anzahl der internationalen Beobachter und Peacekeeper zu erhöhen, um der Gewalt ein Ende zu bereiten und das Recht der Syrer zu schützen, sich an friedlichen Demonstrationen zum Sturze des Regimes zu beteiligen. (9)
  6. Druck auf die traditionelle politische Opposition und ihre regionalen Unterstützer ausüben, endlich zusammenzuarbeiten und eine klare Vision für ein post-Assad Syrien zu entwerfen. Diese muss einen Plan mit praktischen Schritten enthalten, um Syriens Wandel hin zu einem existenzfähigen zivilen und demokratischen Staat, der die Rechte und Freiheiten all seiner Bürger schützt zu garantieren. Dies wird denjenigen Sicherheit geben, die Zweifel an den Zielen der Revolution hegen und die über die Lebensperspektiven nach Assad beunruhigt sind.
  7. Alle legitimen Mittel anwenden die zur Verfügung stehen, um den Syrern zu helfen, das Regime selbst zu stürzen.
  8. Die syrischen Flüchtlinge im Ausland unterstützen und sicherstellen, dass ihnen ein würdiges Leben und die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse zuteilwird. Diese Flüchtlinge vor Zwangsrückführung zu schützen, was in der derzeitigen Lage ihr Leben in Gefahr bringen könnte.
  9. Der Opposition helfen eine militärische Organisation aufzubauen, um so den Einfluss extremistischer Gruppen zu reduzieren, für welche das gegenwärtige Syrien eine ideale Umgebung darstellt. Die internationale Gemeinschaft sollte die „Freie Syrische Armee“ anerkennen und sie darin unterstützen, sich politisch und intellektuell zu organisieren, die Prinzipien der Selbstverteidigung und Bürgerverteidigung, für welche diese ursprünglich geschaffen wurde, zu klären und sie so hoffentlich in ein Bollwerk gegen die zunehmend einflussreichen salafistischen Kampfgruppen transformieren.
  10. Den Aufbau syrischer, arabischer und internationaler “Wahrheits- und Versöhnungskommissionen“ mit der Aufgabe, Beweise für die Verurteilung für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sammeln. Die Täter müssen das Gefühl bekommen, dass sie die Konsequenzen für ihre Handlungen tragen werden müssen: nichts anderes wird sie davon überzeugen, davon abzulassen.
  11. Staaten, welche zu den Unterstützern von Sanktionen gegen das Regime zählen, müssen einen klaren Fahrplan entwerfen, wie nach dem Fall des Regimes diese Strafmaßnahmen wieder aufgehoben und die syrische Wirtschaft zu ihrer vollen Stärke zurückkehren kann. Dies würde den syrischen Geschäftsleuten, welche gegenwärtig das Regime stützen, versichern, dass die syrische Wirtschaft nicht den Weg der Volkswirtschaften in Irak und Libanon gehen wird, und dass das Ende des Regimes auch in ihrem Interesse ist.

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(1) “The Financial Times: Iran helps Syria to overcome oil sanctions.” BBC Arabic Website, 18. Mai 2012

(2) Ibrahim Seif, “Syrian economy on the brink.” 22. Mai, 2012. Carnegie Endowment for International Peace

(3) Die Schutzverantwortung ist ein Prinzip, welches die UN-Generalversammlung 2005 im Kontext der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien, Ruanda, Kongo, Somalia, Kosovo und andernorts, angenommen hat.  Es verknüpft die Souveränität eines Staates mit dessen Verantwortung zum Schutze der eigenen Bevölkerung.

(4) Center for documentation of violations in Syria

(5) Falls ein Staat eindeutig darin versagt, seine Bürger zu schützen, geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über, zeitnah und entschlossen mit friedlichen oder militärischen Mitteln nach Kapitel 6, 7 und 8 der Charta der Vereinten Nationen zu reagieren. Dies beinhaltet Sanktionen, die Überweisung an den Internationalen Strafgerichtshof und eine militärische Intervention.

(6) D.h. militärische und technische Unterstützung der bewaffneten Opposition.

(7) Der Slogan “Ya Allah, ma ilna ghayrak, ya Allah” (Oh Gott, wir haben niemanden außer Dir, oh Gott) der im Sommer 2011, wenige Monate nach Beginn der Revolution auftauchte, deutet auf das zunehmende Gefühl vieler Syrier von einer tiefen Isolation und fehlender Unterstützung hin.

(8) Beides sind Gruppierungen bewaffneter islamistischen Dschihadisten, welche von sich behaupten, in Syrien zu operieren.

(9) Wie zum Beispiel streiken zu können, ohne dass die Sicherheitstruppen oder die shabiha in Geschäfte einbrechen und diese plündern.

Winfried Nachtwei

Schwerste Menschenrechtsverbrechen verhüten

Schwerste Menschenrechtsverbrechen verhüten – Die Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) zwischen Notwendigkeit, Tücken und Umsetzung – Herausforderung für deutsche Sicherheits – und Friedenspolitik [1]

von Winfried Nachtwei, MdB a.D., Münster: Mitglied im Beirat Zivile Krisenprävention beim AA (Co-Vorsitzender), im Vorstand der Dt. Gesellschaft für die Vereinten Nationen und des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“, Juni 2012

Winfried Nachtwei

Winfried Nachtwei

Mit den Gewaltexzessen von Libyen und Syrien hat die internationale Verantwortung zum Schutz vor schwersten Menschenrechtsverbrechen (Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) eine neue Aktualität und Dringlichkeit bekommen.

Grundsätzlich gilt: Wo Staaten in ihrer Schutzverantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung versagen, geht die Schutzverantwortung auf die Internationale Gemeinschaft über. Diese ist angesichts drohender oder akuter schwerster Menschenrechtsverbrechen zum Handeln verpflichtet. Die Art der Maßnahmen ist abhängig von der Geschlossenheit der Internationalen Gemeinschaft (vor allem im Rahmen der UN) und davon, was aussichtsreich, leistbar und verantwortbar ist. Nicht verantwortbar sind Maßnahmen, die absehbar das Übel noch vergrößern würden. Dementsprechend beinhaltet die internationale Schutzverpflichtung auch das Recht auf eine Militärintervention, wenn es der UN-Sicherheitsrat beschließt, aber keineswegs eine Verpflichtung dazu. Weiterlesen

Welchen Beitrag kann Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?

Am 10. Mai 2012 organisierte Genocide Alert e.V. in Zusammenarbeit mit der International Coalition for the Responsibility to Protect (ICRtoP) eine Podiumsdiskussion im Haus der Demokratie und Menschenrechte in Berlin zum Thema „Responsibility to Protect: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“. Bei der gut besuchten Veranstaltung, die Politik, Bürokratie, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenbrachte, wurden zentrale Fragen zur bisherigen Unterstützung und Umsetzung des Konzepts der Schutzverantwortung durch Deutschland sowie die konkrete Anwendung der RtoP in Libyen und Syrien debattiert.

 

Institutionelle Verankerung der Schutzverantwortung im Auswärtigen Amt

Der Moderator der Veranstaltung, Wenzel Michalski, Direktor von Human Rights Watch Deutschland, stieg direkt in die Diskussion ein und fragte, wie die Schutzverantwortung im Auswärtigen Amt institutionell verankert sei. Hermann Nicolai, Referatsleiter in der VN Abteilung im Auswärtigen Amt erklärte, dass sein Referat derzeit für die Schutzverantwortung zuständig sei, da es sich unter anderem mit konzeptionellen Fragen der Vereinten Nationen beschäftigte. Da sich seit 2005 bezüglich der Schutzverantwortung einiges geändert hätte überlege das Auswärtige Amt aber zurzeit – angestoßen von der Schaffung des „Atrocities Prevention Board“ in den USA und der Ernennung von „RtoP Focal Points“ in vielen anderen Ländern – die Verantwortlichkeit für die Schutzverantwortung in eine operativere Position zu verlegen. Wolfgang Seibel, Professor für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Konstanz, beschrieb die Entwicklung der Beschäftigung des Auswärtigen Amtes mit der Schutzverantwortung als „steile Lernkurve“. Nach der heftigen Kritik der Entscheidung der Bundesregierung, sich in der zweiten Libyenresolution 1973 im letzten Jahr zu enthalten, habe man ab Sommer 2011 selbst in der Rhetorik des Außenministers den Begriff der Schutzverantwortung vernehmen können.

 

Die deutsche Position zur „Responsibility while Protecting“

Bezüglich des drei Säulenkonzeptes der Schutzverantwortung äußerte Wolfgang Seibel die Vermutung, dass die deutsche Vertretung bei den VN im Gegensatz zu der VN-Abteilung im AA in Berlin den Ansatz vertrete, das Modell nicht als ein konsekutives zu verstehen, sondern als integrales, in dem alle Säulen gleichzeitig geprüft werden. Dies sei im Gegensatz zu dem Vorschlag von Brasilien zur „Responsibility while Protecting“ zu sehen, welcher die konsekutive Anwendung der drei Säulen vertritt. Hermann Nicolai betonte, dass es im Bezug auf die Bewertung des brasilianischen Konzeptes keine Unterschiede zwischen der deutschen VN-Vertretung und der VN-Abteilung in Berlin gäbe. Der Vorschlag der Brasilianer würde im AA mit „großer Skepsis“ betrachtet, da man natürlich alle drei Säulen gleichzeitig prüfen müsse. Die Bundeskanzlerin hätte mit der brasilianischen Präsidentin höchstpersönlich darüber gesprochen und die deutschen Bedenken geäußert. Es gäbe aber auch positive Aspekte des Konzeptes: Deutschland habe die Hoffnung, dass durch den brasilianischen Vorschlag weitere RtoP-skeptische Länder für eine Unterstützung der Schutzverantwortung gewonnen werden können. Die Bundesrepublik unterstütze außerdem die Idee eines „monitoring mechanism“ für die Überwachung von autorisierten RtoP-Missionen, die auch in dem brasilianischen Vorschlag enthalten sei.

 

Konkrete Unterstützung der RtoP durch Deutschland

Zur konkreten Unterstützung der Schutzverantwortung durch Deutschland erwähnte Hermann Nicolai die finanzielle Unterstützung durch die Bundesrepublik für das Büro des Sondergesandten des UN Generalsekretärs für die Schutzverantwortung, Ed Luck, sowie den Einsatz Deutschlands in der „Friends of RtoP“ Gruppe in New York. Des Weiteren engagiere sich Deutschland politisch dafür, das Konzept weiter zu entwickeln, zum Beispiel im Dialog mit Brasilien und Südafrika. Das Auswärtige Amt hätte daher im Juni 2012 in Pretoria einen Workshop organisiert, um mit den Brasilianern, Südafrikanern und internationalen Experten über die RtoP zu diskutieren. Die Schutzverantwortung würde außerdem von der gesamten Europäischen Union unterstützt. So stünde im neuen Prioritätenpapier für die EU-Politik in der VN, dass der weitere Ausbau und die Operationalisierung der Schutzverantwortung zu den Prioritäten gehören. Thorsten Benner, stellvertretender Direktor des Global Public Policy Institute in Berlin, lobte das Zugehen auf die BRICS Staaten durch die deutsche Außenpolitik, da Normentwicklung nur im Dialog mit den aufstrebenden Mächten funktionieren könne. Er kritisierte aber auch, dass vom AA im Bezug auf die Schutzverantwortung keine Themenführerschaft ausginge und man lediglich reagiere und sich internationalen Entwicklungen anpasse. Man solle die Schutzverantwortung nicht allein als eine völkerrechtliche Frage sehen, die man über die nächsten Jahrzehnte ausarbeiten müsse, sondern diese als eine politisch-moralische Verpflichtung verstehen, die Deutschland im Jahre 2005 eingegangen sei.

 

Ein „Atrocities Prevention Board“ in Deutschland?

Auf die Frage, ob und in welcher Form man in Deutschland eine ähnliche Koordinierungseinheit wie das „Atrocities Prevention Board“ in den USA schaffen sollte, antwortete Marina Schuster, Bundestagsabgeordnete und Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion für Menschenrechte, dass sie sich einer solchen Idee zwar nicht entgegen stellen würde. Anstatt nationale Konzepte auszubauen, würde sie jedoch  eine größere multilaterale Anstrengung bevorzugen. Hermann Nicolai befand die gegenwärtigen Strukturen als ausreichend. Die Arbeitsgruppe zum Ressortkreis zivile Krisenprävention beschäftigte sich mit ähnlichen Fragen wie das „Atrocities Prevention Board“. Der Ressortkreis und dessen Beirat zusammengenommen wären in ihrer Zusammensetzung nicht viel anders als das amerikanische Modell. Die Schutzverantwortung sei zwar im Ressortkreis noch nicht diskutiert worden, wäre aber dort bald Thema. Robert Schütte, Vorsitzender von Genocide Alert, warnte, dass man vorsichtig sein sollte, dass die RtoP nicht unter ziviler Krisenprävention subsumiert würde, da sie das darüber liegende Konzept sei und die Krisenprävention lediglich ein Teil davon sein sollte.

 

Die Libyenintervention und die deutsche Enthaltung

Im Bezug auf die NATO Intervention in Libyen im letzten Jahr erinnerte Robert Schütte daran, dass man sich bei aller Kritik in Deutschland bewusst machen sollte, was passiert wäre, wenn die NATO nicht eingegriffen hätte. Er sei sich sicher, dass in diesem Fall die Frage gestellt worden wäre, wie „nach Ruanda, nach Srebrenica, nach den langen Diskussionen zur Schutzverantwortung, unter den Augen der Welt, angekündigt, ein großes Massaker in Benghazi hat stattfinden können“. Thorsten Benner befand, dass man es sich zu einfach mache, wenn man die NATO-Mission, so wie sie gelaufen sei, für gut heißen würde. Er argumentierte, die NATO hätte nach dem verhinderten Massaker in Benghazi erst einmal den Sieg erklären sollen, um anschließend alle Optionen neu zu bewerten. Auch wenn die Kritik und Argumente gegen die RtoP, insbesondere von Russland und China, oft scheinheilig wären, hätte man es diesen Kritikern durch die Implementierung der Libyenmission zu leicht gemacht. Im Bezug auf die deutsche Enthaltung bei der Resolution 1973, die die NATO-Intervention autorisierte, kritisierte Wolfgang Seibel die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, in einem solchen „glasklaren RtoP-Fall“ die internationale Gemeinschaft nicht zu unterstützen. Marina Schuster stellte fest, dass keine Partei im deutschen Bundestag eine Beteiligung an einer Mission in Libyen befürwortet oder gefordert hätte und sie die Position vieler – man hätte mit „Ja“ stimmen, sich aber dann trotzdem nicht beteiligen sollen – kritisch sehe.

 

Deutsche Verantwortung im RtoP-Fall Syrien

Hinsichtlich der Lage in Syrien und der Blockadehaltung Russlands und Chinas im Sicherheitsrat beschrieb Marina Schuster ein „Gefühl der Ohnmacht“. Man habe die im parlamentarischen Bereich zur Verfügung stehenden Mittel genutzt und zum Beispiel mit dem russischen Botschafter Gespräche geführt. Wolfgang Seibel bemerkte, dass es in Syrien nicht um eine militärische Intervention ginge, da sich Syrien in einer äußerst komplexen geopolitischen Lage befände und eine Intervention nicht die gleichen Erfolgschancen wie in Libyen hätte. Seiner Meinung nach sollte Deutschland mehr tun um die Länder, die im  Sicherheitsrat weitere Maßnahmen blockierten, insbesondere Russland und China, mehr unter Druck zu setzen.  Deutschland solle trotz eventuell dem entgegen stehenden Wirtschaftsinteressen eine „klare Sprache“ sprechen. Herrmann Nicolai entgegnete dem, dass es nicht zielführend sei, dies öffentlich zu tun und man durch Diplomatie inzwischen zumindest die Mission von Kofi Annan möglich gemacht habe. Robert Schütte warnte, dass man sich auch auf nationalstaatlicher Ebene Gedanken machen müsse, welche Handlungsoptionen es gäbe, wenn diese Mission  scheitere.

 

Notwendige Maßnahmen zur Umsetzung der Schutzverantwortung

Die Podiumsteilnehmer nannten eine Reihe von notwendigen Maßnahmen, die die internationale Gemeinschaft und Deutschland ergreifen sollten, um eine bessere Umsetzung der Schutzverantwortung zu erreichen. Thorsten Benner sprach sich für eine Stärkung der Überwachungskapazitäten der Vereinten Nationen aus, damit diese die Verletzung der Schutzverantwortung von Seiten der Staaten überwachen können.

Marina Schuster berichtete, dass sie in der parlamentarische Versammlung des Europarates einen Bericht vorgelegt habe, der eine Folgekonferenz der „International Commission on Intervention and State Sovereignty“ (ICISS) vorschlage, um strittige Fragen zur RtoP im Völkerrecht zu klären. Der Bericht sei von der parlamentarischen Versammlung beschlossen und an den VN-Generalsekretär Ban Ki-moon gesendet worden. Deutschland müsse sich dafür einsetzen, dass das Konzept nicht diskreditiert oder missbraucht würde. Robert Schütte, betonte, dass es notwendig sei „Schutz von Zivilisten“ als Konzept  genau zu definieren. Obwohl die Vereinten Nationen seit 1999 dies als Aufgabe in Mandaten von VN-Missionen verankern, sei immer noch nicht genau ausbuchstabiert, was dies genau bedeute. Auch Wolfgang Seibel erinnerte, dass die RtoP tagtäglich in Peacekeeping-Missionen eine Rolle spiele. Man müsse dafür sorgen, dass diese ausreichend ausgestattet sind, um ihre Mandate erfüllen zu können.

 

Politischer Wille für die Schutzverantwortung in Deutschland?

Ein zentraler Punkt für die Unterstützung der Schutzverantwortung durch Deutschland, der von vielen der Podiumsteilnehmer angesprochen wurde, war die Frage des politischen Willens in Deutschland. Thorsten Benner bemerkte, dass die Bundeskanzlerin, die sich vielen außenpolitischen Themen angenommen habe, die Schutzverantwortung nicht öffentlich unterstützt. Dies lege daran, dass man in Deutschland mit diesem Thema als Politiker nichts gewinnen könne. Er lobte die Arbeit von Genocide Alert als „eine der wenigen NGOs in Deutschland“, die bei dem Thema Druck ausübten und betonte den Bedarf an mehr Überzeugungsarbeit in Politik und Gesellschaft. Wolfgang Seibel stellte den Unterschied der politischen Unterstützung der Libyenintervention in Frankreich und Großbritannien gegenüber Deutschland hervor. In den ersten beiden Ländern habe es eine breite Befürwortung des Einsatzes, auch durch die jeweilige Opposition und in der Bevölkerung, gegeben. Die dortigen Regierungen hätten es sich im Gegensatz zu der deutschen schlecht leisten können, nicht zu intervenieren. Auf eine Frage aus dem Publikum, ob die Schutzverantwortung nicht nur eine vorgeschobene Deckung für militärische Interventionen sei, entgegnete er, dass die nur in Fällen schlimmster Massenverbrechen greife. Dies seinen Kriegsverbrechen, ethnische Säuberungen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Man müsse sich dann konkret mit der Frage der moralischen Verantwortung auseinandersetzen, wenn man in Fällen wie Srebrenica und Ruanda, aber auch Benghazi nicht eingreife, sondern zuschaue. Robert Schütte hob auch abschließend den Widerspruch hervor, dass die deutsche Bevölkerung in einer Umfrage zur Libyenintervention zwar mit einer Zweidrittelmehrheit eine Intervention befürwortete, eine deutsche Beteiligung an dieser aber mit der gleichen Mehrheit ablehnte. Er sprach sich dafür aus, in Deutschland auch eine „Freundesgruppe“ der Schutzverantwortung zu schaffen, um dem Thema in Politik und Gesellschaft mehr Prominenz zu geben. Die von Genocide Alert organisierte Veranstaltung wäre ein Versuch, zu diesem Prozess beizutragen.

 

Sarah Brockmeier

Klicken Sie hier für die PDF Version des Berichtes. Hier zum Programmheft der Veranstaltung. Eine Videoaufnahme der Veranstaltung wird bald auf dieser Seite veröffentlicht.

Begräbnis von 465 identifizierten Massakeropfern (Srebrenica 2007) Quelle: I, Pyramid / wikipedia.org

Factsheet: Das Atrocities Prevention Board und die amerikanische Strategie zur Prävention von Massenverbrechen – Vorbild für Deutschland?

Factsheet: Das Atrocities Prevention Board und die amerikanische Strategie zur Prävention von Massenverbrechen – Vorbild für Deutschland?

von Sarah Brockmeier, 15. Mai 2012

Am 23. April 2012 verkündete der amerikanische Präsident in einer Ansprache im US Holocaust Memorial Museum in Washington den Aufbau eines ‚Atrocities Prevention Boards‘ in den USA – eine Koordinierungseinheit, die ressortübergreifend zu einer effektiveren Prävention von und Reaktion auf (potentielle) Massenverbrechen führen soll. Zudem erklärte er, dass er die Ergebnisse einer Studie zu den gegenwärtigen Kapazitäten der Regierung in diesem Bereich angenommen und seine Regierung zur Umsetzung einer umfassenden Strategie zur Prävention von Massenverbrechen angewiesen hat. Das vorliegende Factsheet erklärt Aufgaben und Zusammensetzung des Atrocities Prevention Board und die wichtigsten Eckpunkte der umfassenden amerikanischen Strategie.[1] Weiterlesen

Podiumsdiskussion: „‚Responsibility to Protect‘: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“

Genocide Alert e.V. freut sich, zu einer spannenden Podiumsdiskussion zum Thema ‚Deutschland und die Schutzverantwortung‘ einzuladen. Die Podiumsdiskussion wird veranstaltet von Genocide Alert in Zusammenarbeit mit  der „International Coalition for the Responsibility to Protect“ (ICRtoP). 

Das Konzept der Schutzverantwortung basiert auf der Überzeugung, dass der Schutz des Menschen die oberste Aufgabe jeglichen staatlichen Handelns darstellt. Sollte ein Staat nicht fähig oder willens sein, seine Bürger vor Massenverbrechen zu schützen, geht diese Verantwortung zum Schutz der Bevölkerung auf die Staatengemeinschaft über. Vor dem Hintergrund der Konflikte in Libyen und Syrien wollen wir mit politischen Entscheidungsträgern und Experten diskutieren, wie die Schutzverantwortung durch Deutschland in Zukunft konkret umgesetzt werden kann und sollte.

Die Veranstaltung findet statt am: Donnerstag, 10.05.2012, 19.00 Uhr, im Robert-Havemann-SaaHaus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Str. 4, 10405 Berlin.

Die Veranstaltung „Responsibility to Protect‘: Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland für die Schutzverantwortung leisten?“ wurde auf Video aufgenommen und kann über den YouTube-Kanal von Genocide Alert abgerufen werden.


Programm:

19.00 Begrüßung

Genocide Alert & Schutzverantwortung, Sven Scheid, Genocide Alert

19.10 Diskussion:

  • Wurde Deutschland seiner internationalen Verantwortung bei der Umsetzung der Schutzverantwortung bisher gerecht?
  • Welchen Beitrag kann (und will) Deutschland zukünftig für die Schutzverantwortung leisten?

Podiumsteilnehmer:

Marina Schuster (FDP), MdB

Christoph Strässer (SPD), MdB (angefragt)

Prof. Dr. Wolfgang Seibel, Universität Konstanz

Hermann Nicolai, Auswärtiges Amt

Thorsten Benner, Global Public Policy Institute

Robert Schütte, Genocide Alert

Moderation: Wenzel Michalski, Direktor Human Rights Watch Deutschland

20.30   Fragen aus dem Publikum

21.00   Empfang

Um eine Anmeldung wird gebeten unter sekretariat@genocide-alert.de.

Für Fragen zur Veranstaltung, wenden Sie sich bitte an  Sven Scheid, Genocide Alert e.V., sven.scheid@genocide-alert.de.

Mehr Informationen zur Schutzverantwortung und Genocide Alert finden Sie unter  www.schutzverantwortung.de und www.genocide-alert.de. 

Hier zur PDF Version der Einladung.

Factsheet: Die dritte Säule der Schutzverantwortung

Factsheet: Die dritte Säule der Schutzverantwortung: Die rechtzeitige und entschlossene Reaktion auf Massenverbrechen von Gregor Hofmann,  30.04.2012 Im Sommer 2012 debattiert die Generalversammlung der Vereinten Nationen die “dritte Säule” der Schutzverantwortung oder “Responsibility to Protect.” In diesem Factsheet übersetzt und ergänzt Genocide Alert die Publikation “Clarifying the Third Pillar of the Responsibility to Protect” der International Coalition for the Responsibility […]

Genocide Alert Policy Brief: Syrien am Abgrund: Eine menschen- und völkerrechtliche Bestandsaufnahme der Gewalt gegen die Zivilbevölkerung

Die anhaltende Gewalt in Syrien, die am 25. April 2011 mit der ersten großangelegten Militäraktion in Dara begann und sich seither stetig intensiviert, hat inzwischen zu unzähligen Verstößen des Assad Regimes gegen das Völkerrecht geführt. Im Folgenden gibt Genocide Alert ein Überblick über die zentralen Völkerrechtsverletzungen des Regimes in Syrien und stellt diese den Reaktionen der Weltgemeinschaft gegenüber. Genocide Alert kommt zu dem Schluss, dass sich die Regierung in Damaskus nicht nur schwerer Menschenrechtsverletzung schuldig gemacht hat, sondern auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie Kriegsverbrechen begangen hat.

 

1.  Verletzung von Menschenrechten

Menschenrechte sind insbesondere im Völkervertragsrecht und im Völkergewohnheitsrecht verankert. Es handelt sich dabei um Gewährleistungen eines Staates gegenüber Individuen. So hat auch die syrische Regierung grundsätzlich eine Schutzpflicht gegenüber den eigenen Staatsbürgern, auch solchen, die gegen die bestehenden Machtverhältnisse demonstrieren. Vereinzelte, gewalttätige Ausschreitungen entbinden den Staat nicht von seinen völkerrechtlichen Pflichten. Gezielte Tötungen von Demonstranten, die Benutzung von Zivilisten als menschliche Schutz-Schilde („human shields“), willkürliche Festnahmen, Misshandlungen, erzwungenes Verschwinden sowie andere gewaltsame Maßnahmen des Assad-Regimes gegen unbewaffnete Bürger verletzen daher folgende völkerrechtliche Garantien:

Recht auf Leben

Das Recht auf Leben ist ein fundamentales Menschenrecht und insbesondere im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR, Art. 6; http://www2.ohchr.org/english/law/ccpr.htm/; http://www.auswaertiges-amt.de/cae/servlet/contentblob/360806/publicationFile/3618/IntSozialpakt.pdf) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, Art. 3; http://www.un.org/depts/german/grunddok/ar217a3.html) sowie in der arabischen Charta der Menschenrechte (Art. 5; http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/arab.pdf) kodifiziert. Das Recht auf Leben ist zudem völkergewohnheitsrechtlich anerkannt. Hiernach darf niemand absichtlich getötet werden.

Folterverbot

Art. 7 IPbpR, Art. 5 AEMR sowie Art. 4 c) der arabischen Charta der Menschenrechte verbieten Folter und grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung. Das Folterverbot ist ferner in der Anti- Folterkonvention (http://www2.ohchr.org/english/law/cat.htm) kodifiziert. Das Verbot der Folter genießt nach ganz überwiegender Meinung völkergewohnheitsrechtlichen Status und ist selbst in der syrischen Verfassung von 1973 enthalten.

Recht auf Freiheit und Sicherheit

Das in Art. 9 und Art. 10 IPbpR, in Art. 6 der AEMR und Art. 8 der arabischen Charta der Menschenrechte garantierte Recht auf Freiheit, Sicherheit und menschenwürdige Behandlung bei Festnahme schützt vor willkürlicher Freiheitsentziehung und Haft.

Recht auf Meinungsfreiheit

Schließlich schützt das Recht auf Meinungsfreiheit (vgl. Art.  19 IPbpR, Art. 19 AEMR, Art. 26 arabische Charta der Menschenrechte) die freie Meinungskundgabe und Art. 21 IPbpR, Art. 20 AEMR und Art. 28 arabische Charta der Menschenrechte die Versammlungsfreiheit.


2.  Verstöße gegen das Völkerstrafrecht

Wie das nationale Strafrecht sanktioniert auch das Völkerstrafrecht (völker-) rechtswidriges Verhalten Einzelner. Das Völkerstrafrecht umfasst insbesondere die sogenannten „core crimes“: Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Im Falle Syriens kommt vor allem die Strafbarkeit von Präsident Assad, aber auch anderer syrischer Befehlshaber, in Betracht.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Der Tatbestand „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ setzt zunächst einen Angriff gegen die Zivilbevölkerung voraus. Dieser muss ferner groß angelegt oder systematisch sein (vgl. Art. 7 Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (http://www.un.org/depts/german/internatrecht/roemstat1.html).

Ein Angriff gegen die Zivilbevölkerung meint die mehrfache Begehung der im Statut des IStGH unter Art. 7 genannten Einzeltaten. Menschenrechtsorganisationen als auch UN- Organe dokumentieren Mord, Freiheitsentzug, Folter, Verschwindenlassen von Personen, Vergewaltigungen und andere unmenschliche Handlungen ähnlicher Art. Ferner ist insbesondere die von der syrischen Regierung befohlene Verlegung von Antipersonenminen, die keinen gesteigerten militärischen Nutzen haben, sondern in den meisten Fällen nur zivile Opfer fordern, ein Beleg für das gezielte militärische Vorgehen gegen die Zivilbevölkerung.

Ein Angriff ist groß angelegt, wenn er eine große Anzahl an Opfern fordert. Seit Beginn des militärischen Vorgehens gegen die eigene Bevölkerung vor 11 Monaten sind ca. 9000 Menschen getötet und zahllose Verletzungen von Menschenrechten und fundamentalen Freiheitsrechten begangen worden.

Ein Angriff ist systematisch, wenn er qualitativ gezielt vorgenommen wird. Seit Mai 2011 hat die syrische Armee eindeutige „shoot to kill“ Befehle erhalten. Nicht nur aufständische Rebellen, sondern auch nichtbewaffnete Demonstranten wurden willkürlich erschossen, sowie verschleppt, gefoltert oder auf andere Weise misshandelt. Die Situation in Syrien gestaltet sich daher nicht als bloßer Konflikt zwischen Regierungstruppen und bewaffneten Rebellen oder Terroristen. Die Proteste in Syrien haben vielmehr ihren Ursprung im Arabischen Frühling – eine gewaltfreie, zivile Protestbewegung. Das brutale Vorgehen des Assad Regimes richtete sich demnach gegen die Zivilbevölkerung.

 

Kriegsverbrechen

Der Straftatbestand „Kriegsverbrechen“ setzt zunächst das Vorliegen eines bewaffneten Konflikts voraus (vgl. Art. 8 des IStGH Statuts), wobei im Falle Syrien nur das Vorliegen eines nicht- internationalen bewaffneten Konflikts in Frage kommt. Bloße innere Unruhen und Spannungen stellen jedoch noch keinen bewaffneten Konflikt dar. Vielmehr müssen die oppositionellen Rebellen eine bestimmte Befehlsstruktur und einen bestimmten Organisationsgrad aufweisen. Ferner wird eine gewisse territoriale Beherrschung seitens der Rebellen vorausgesetzt. Schließlich muss es sich in zeitlicher Hinsicht, um lang anhaltende bewaffnete Gewalt handeln. Ein Teil der syrischen Demonstranten hat sich – auch mit Unterstützung von Deserteuren der syrischen Armee – militarisiert und lässt zudem eine klare Kommandostruktur erkennen. Zudem können Homs und Idlib – als Hochburgen der Aufständischen – zumindest zeitweise als allein von den Rebellen beherrschtes Gebiet betrachtet werden. Der Dauerbeschuss von Homs, Idlib, Hama und Deraa, sowie deren Stürmung durch die syrische Armee, gefolgt von andauernden Kämpfen zwischen den Aufständischen und den staatlichen Streitkräften, entspricht schließlich spätestens seit Februar 2012 den Voraussetzungen des Tatbestandes in Hinblick auf die Qualität und Quantität der Gewaltanwendung. Inzwischen muss daher von einem bewaffneten, nicht- internationalen Konflikt ausgegangen werden.

In einem nicht-internationalen Konflikt fällt unter den Begriff des Kriegsverbrechens abermals insbesondere der vorsätzliche Angriff auf die Zivilbevölkerung als solche oder auf einzelne Zivilpersonen, die an den Feindseligkeiten nicht unmittelbar teilnehmen (vgl. Art. 8 Abs. 2 (e) (i) IStGH Statut). Absichtliche Tötungen von Demonstranten, Benutzung von Zivilisten als „human shields“, willkürliche Festnahmen, Misshandlungen, erzwungenes Verschwinden sowie andere gewaltsame Maßnahmen gegen unbewaffnete Bürger sind mithin verbotene Handlungen auch in einem bewaffneten Konflikt.

 

 

Fazit

Genocide Alert gelangt zu der Schlussfolgerung, dass die syrische Regierung gewaltsam gegen die eigene Zivilbevölkerung vorgeht und dabei gegen fundamentale Menschenrechte verstößt. Nach Auffassung von Genocide Alert ist auch der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit als auch des Kriegsverbrechens verwirklicht.

Es ist beklagenswert, dass die Weltgemeinschaft die Tötung tausender syrischer Bürger durch ihre Regierung hinnimmt. Die deutlichste Reaktion war bislang das unverbindliche presidential statement des Sicherheitsrates vom 21. März 2012. Rechtsverbindliche Maßnahmen durch den UN-Sicherheitsrat wurden stets durch China und Russland verhindert. Dem gleichen Schicksal droht auch eine Anklage Assads durch den IStGH zu erliegen. Zudem ist Syrien keine Vertragspartei des Römischen Statutes des IStGH, so dass auch die Anklage auf Initiative eines anderen Staates oder auf Initiative des IStGH-Anklägers selbst ausscheidet. In Anbetracht der unaufhörlichen Gewalt ist zu befürchten, dass auch der von UN-Vermittler Kofi Annan ausgehandelten Abzug aller Militäreinheiten aus Städten sowie Feuerpause zwischen Regierung und Rebellen keinen nachhaltigen Erfolg haben wird. Es ist an der Zeit, die Haltung des UN-Sicherheitsrates und vor allem der Veto-Mächte China und Russland in den Fokus der öffentlichen Kritik zu rücken.

Sinthiou Estelle Buszewski

Heidemarie Wieczorek-Zeul mdB und Bundesministerin a.D. (Ministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung)

Interview mit Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Schutzverantwortung

„Wir dürfen niemals vergessen, weshalb das Konzept der Schutzverantwortung von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen wurde.“

20.03.2012

Nach der Enthaltung der Bundesregierung bei der Sicherheitsresolution zur Libyen-Intervention im letzten Jahr, kritisierte Heidemarie Wieczorek-Zeul die Bundesregierung scharf und erinnerte im Bundestag eindringlich an das Prinzip der  Schutzverantwortung. Im Interview mit Genocide Alert geht die SPD Abgeordnete und Bundesministerin a.D. für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung mit der Bundesregierung hart ins Gericht und erklärt warum sie die Schutzverantwortung für so wichtig hält und welche Schritte die Bundesregierung im Fall Syrien unternehmen sollte. Weiterlesen

So viel wie nötig, so wenig wie möglich? – Das Spannungsfeld zwischen Schutzverantwortung und Regimewechsel

von Lena Kiesewetter, 15. März 2012

Irgendwann während des Libyen-Einsatzes der NATO wurden die Begründungen für den Einsatz unklar, verschwamm die Grenze zwischen einem Einsatz, der die Menschen in Benghazi vor einem Massaker retten sollte und einem solchen, der Gaddafi vom Thron stoßen sollte. Kritik wurde laut, dass es hier mehr um einen Regimewechsel ging als um einen Einsatz im Rahmen der Schutzverantwortung. Aber wo ist die Grenze zwischen dem einen und dem anderen, wenn die Machthaber nicht nur beim Schutz der Bevölkerung versagen, sondern sie sogar selbst angreifen? Kann ein Regimewechsel im Rahmen der Schutzverantwortung überhaupt kategorisch ausgeschlossen werden? Weiterlesen

Der Bericht der Beobachtermission der Arabischen Liga in Syrien und die Schlüsse daraus

Die Beobachtermission der arabischen Liga in Syrien hat Ende Januar dem Ministerrat der Liga ihren Bericht vorgelegt. Dieser wurde allerdings nicht veröffentlicht und war auch nicht Gegenstand der Berichterstattung in den europäischen und nordamerikanischen Medien, was im Internet zu Spekulationen über westliche Kriegspropaganda und Kritik an der Berichterstattung der Medien führte. Im Folgenden wird der Inhalt des Berichts anhand der beiden „geleakten“ Übersetzungen des Berichts kurz aufgezeigt und kommentiert sowie Schlüsse für eine mögliche neue Beobachtermission gezogen. Die Übersetzungen, die sich zwar sprachlich aber inhaltlich nicht unterscheiden, sind bei der Zeitschrift Foreign Policy und auf der Plattform Wikispooks abrufbar.

Die Beobachtermission

Die Beobachtermission der Arabischen Liga war am 26. Dezember 2011 nach Syrien entsandt worden. Vorausgegangen war eine Zustimmung der syrischen Regierung zu einem Friedensplan der Arabischen Liga, der einen innersyrischen Aussöhnungsprozess einleiten sollte: Nach einem Ende der Gewalt durch die syrischen Sicherheitskräfte und bewaffnete Oppositionsgruppen, dem Abzug schwerer Waffen und Panzer aus Städten und Wohngebieten und der Freilassung aller während der Proteste zu Unrecht festgenommenen Oppositionellen sah der Friedensplan Verhandlungen zwischen beiden Seiten vor. Die 165-köpfige Beobachtermission sollte die Umsetzung des Friedensplans überwachen. Die Arabische Liga beschloss allerdings am 28. Januar 2012 den Abbruch der Beobachtermission auf Grund von Berichten über zunehmende Gewalt in Syrien und zahlreiche tote Zivilisten. Zudem war die Mission bei der Ausführung ihrer Arbeit behindert worden. Mohammed al-Dabi, der Leiter der Mission, hatte am Tag zuvor von einer „dramatischen Eskalation“ der Gewalt gesprochen. Syrien hatte noch am 25. Januar 2012 einer einmonatigen Verlängerung der Mission zugestimmt, zu diesem Zeitpunkt hatten allerdings die Golfstaaten schon den Abzug ihrer Beobachter veranlasst.

Der Bericht wurde vom Leiter der Mission Muhammad Ahmad Mustafa Al-Dabi verfasst und basiert auf dessen Besprechungen mit den einzelnen Gruppenleitern der Mission am 17. Januar 2012. Er wurde folglich vor dem Abbruch der Mission verfasst.  Auch wenn der Bericht Lob für die Kooperation der syrischen Behörden ausspricht, so wird doch eindeutig klar, dass in Syrien zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Mission der Arabischen Liga ein Bürgerkrieg kurz bevorstand und dass nach wie vor Zivilisten die Leidtragenden des Konflikts sind. Al-Dabi ist inzwischen ohne Angabe von Gründen von seinem Amt zurück getreten. Schon im Vorfeld der Mission hatte es massive Kritik von Menschenrechtsorganisationen  an seiner Ernennung gegeben, da er beschuldigt wird als Vertrauter des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir von Kriegsverbrechen in der sudanesischen Krisenregion Darfur gewusst bzw. sie gedeckt zu haben. Mohammed al-Dabi war zudem ein Kompromisskandidat für die Leitung der Mission, nachdem Syriens Präsident Baschar al-Assad eine Reihe anderer Kandidaten abgelehnt hatte. Dies und seine Aussage zu Beginn der Mission, er habe in der stark umkämpften Protesthochburg Homs nichts gesehen, wirft Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit auf. Zumal einige Mitglieder der Beobachtermission ihre Teilnahme vorzeitig abbrachen und zumindest ein ehemaliges Mitglied die Mission als Farce beschrieb, die über ein humanitäres Desaster hinwegtäusche. Aufgrund der Zweifel an der Person Al-Dabi und der vielen Unstimmigkeiten ist der Bericht der Arabischen Beobachtermission kritisch zu betrachten. Zumal die Aussagen des Berichts in vielen Punkten den Berichten einzelner Mitarbeitern der Mission sowie der Medienberichterstattung aus Syrien wiedersprechen.

Der Inhalt des Berichts

Neben der eigentlichen Berichterstattung über die Geschehnisse vor Ort enthält der Bericht Details über die Vorbereitung und die operative Durchführung der Mission sowie Vorschläge für die Ausstattung einer zukünftigen Mission. Er zeichnet ein weicheres Bild der Lage in Syrien als die Medienberichterstattung der vergangenen Monate.

Muhammad Al-Dabi berichtet, dass zu Beginn der Mission sehr wohl Gewalt von Seiten der Regierung gegen Oppositionelle beobachtet wurde, dass es aber auch bereits zu Feuergefechten mit „bestimmten Gruppen“ gekommen sei. Nach seinen Angaben habe die Gewalt im Verlauf der Mission nachgelassen. Die Regierungstruppen hätten schwere Waffen und Panzer aus den Städten und Wohngebieten zurückgezogen, was zu einem Rückgang der Gewalt geführt hätte. Gleichzeitig sollen bewaffnete Gruppierungen Pipelines angegriffen und Gewalt gegen Zivilisten und Regierungstruppen ausgeübt haben. Letzteres hätte zum Teil gewaltsame Reaktionen der Regierung provoziert. Auch berichtet er, dass vielerorts fälschlicherweise über Gewalt oder Explosionen berichtet worden sei, die von den Beobachtern bei Ortsbesuchen nicht bestätigt werden konnten. Auch hätten die Medien das Ausmaß der Ereignisse, die Zahl der Toten sowie die Zahl der Proteste in einigen Städten übertrieben. Vielmehr hätten nach Angaben der Beobachter Demonstrationen von Gegnern wie Unterstützern der Regierung weitgehend ungestört durchgeführt werden können. Er lobt zudem die erfolgreiche Mitarbeit der syrischen Behörden und bestätigt die Freilassung von Gefangenen, auch wenn er die von den syrischen Behörden angegebenen Zahlen nicht bestätigen kann.

Diese Punkte werden von vielen Kritikern einer internationalen Einmischung in die Geschehnisse in Syrien aufgegriffen und als Beweise dafür genutzt, dass die Lage in Syrien keinesfalls so dramatisch sei, wie es von den Medien suggeriert werde.

Viele, die sich auf den Bericht beziehen verschweigen aber, dass selbst Muhammad Al-Dabi zugeben muss, dass die Eskalation der Gewalt auf eine übertrieben gewalttätige Reaktion der Assad-Regierung auf die zunächst friedlichen Proteste der Oppositionellen zurückzuführen ist. Auch berichtet er, dass einige Gruppen als Reaktion auf die Gewalt, die Tyrannei des Regimes, die Korruption, die alle Bereiche der Gesellschaft betreffe und die Menschenrechtsverletzungen inzwischen zu den Waffen gegriffen hätten. Den Preis für die weiterhin mit Waffen ausgetragene Konfrontation, in der nun Gewalt von beiden Seiten ausgeübt wird, zahlten unschuldige Bürger „mit Leib und Leben“. So heißt es weiterhin: „In some cities, the Mission sensed the extreme tension, oppression and injustice from which the Syrian people are suffering”. Nichtsdestotrotz wäre, so Al-Dabi, die meisten Syrer gegen eine internationale Einmischung und würden eine arabische Lösung bevorzugen.

Chancen für eine neue Beobachtermission?

Die Tatsache, dass es trotz der Präsenz der Beobachter im Land zu einer  Eskalation der Gewalt kam zeigt, dass die Beobachtermission der Arabischen Liga gescheitert ist. Setzt man den Bericht in den Kontext der Medienberichterstattung wird klar, dass – auch angesichts eines zunehmenden bewaffneten Widerstands durch die Opposition – das Leid der Bevölkerung maßgeblich durch die massive Anwendung militärischer Gewalt  durch die Regierung gegen das eigene Volk hervorgerufen wird.  Wie die jüngsten Berichte über Angriffe auf die Stadt Homs zeigen, geht der überwiegende Anteil der Gewalt von Seiten der Regierung aus.

Eine neue Beobachtermission, mit neuer Leitung – welche international anerkannt sein sollte – und unter Beteiligung der UN könnte ein möglicher erster Schritt sein. Schließlich hatten die Beobachter der Arabischen Liga zumindest während ihrer Anwesenheit in den jeweiligen Städten zu einer vorübergehenden Beruhigung der Gewalt beigetragen – wenn auch nicht landesweit. Für eine Fortführung der Mission kann man aus al-Dabis Bericht klare Empfehlungen ziehen: Die Mission sollte größer sein und besser ausgerüstet in Sachen Kommunikationsmitteln und Sicherheit – in Form von Schutzwesten und Fahrzeugen. Er empfiehlt zudem mehr militärisches Personal in die Mission aufzunehmen, was im Sinne einer möglicherweise notwendigen Selbstverteidigung der Beobachter und der Bewegungsfreiheit sinnvoll sein dürfte. Zudem sollten der Mission vielfältig Qualifizierte angehören  – neben Menschenrechtlern auch Juristen, Mediziner und Ingenieure, damit das wirkliche Ausmaß der Geschehnisse angemessen erfasst werden kann und die Mission fundierte Einschätzungen zu den begangenen Verbrechen, zur medizinischen Versorgung der Opfer und zur Zerstörung der Infrastruktur machen kann. Eine neue Mission sollte sich zudem frei im Land bewegen können, weshalb sie mit eigenen Fahrzeugen ausgerüstet und von unabhängigen Fahrern eskortiert werden sollte.

Es muss weiterhin eine Einigung im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gesucht werden. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte in einer Resolution vom 16. Februar die Gewalt in Syrien bei nur 12 Gegenstimmen eindeutig verurteilt und den Friedensplan der Arabischen Liga aufgegriffen. Dies ist ein deutliches Signal an China und Russland, die eine Entscheidung des Sicherheitsrates weiterhin blockieren. Auch China und Russland müssen ihrer Verantwortung gerecht werden.

Von Gregor Hofmann